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Der Vorhof zur Hölle – ein Knastarzt über Raumwahrnehmung.

Wie sieht eine Zelle von innen aus, wie riecht und klingt der Knast? Welches Gefühl vermittelt ein Raum, den man nicht verlassen kann? Über die spezielle Atmosphäre in geschlossenen Räumen schreibt Gastautor Joe Bausch, Gerichtsmediziner im Kölner "Tatort" und Gefängnisarzt der JVA Werl.

Der dumpfe Klang schwerer Türen, die ins Schloss fallen. Die scheppernden Schlüssel am Hosenbund des Personals. Als ich im Februar 1987 das erste Mal die Justizvollzugsanstalt Werl betrat, war ich vor allem überrascht von der Eindringlichkeit dieser Geräusche. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich für einen Gefangenen anfühlt, der zum ersten Mal diesen Weg gehen muss.

Mit jeder Tür entfernt er sich ein Stück weit mehr von der „normalen“ Welt. Taucht in einen ganz eigenen Mikrokosmos ein. Jede Tür, die er auf dem Weg zu seiner Zelle passieren muss, bestätigt ihm aufs Neue seine Unfreiheit – allen voran die eigene Zellentür. Sie sorgt dafür, dass der Gefangene nur noch auf sich selbst reduziert ist. Eine Erfahrung, die ich zum Glück nie machen musste. Ich bin nur der Arzt, kein Gefangener. Ich kann diesem speziellen „Raum“ nach Dienstschluss entfliehen.

Wie die meisten Kollegen auch, hatte ich zunächst keinen eigenen Schlüssel. Kein gutes Gefühl. Aber nach vierzehn Tagen war diese Ohnmacht beendet: Jetzt war ich einer von denen, die an einem Bund große, abgewetzte Schlüssel tragen. Es war wie die Aufnahme in einen Orden. Ich hatte jetzt Schlüsselgewalt. Die einen haben einen Schlüssel, die anderen nicht. Auch wenn dieses kleine Ding letztendlich nur darüber entscheidet, ob man etwas Banales tun kann, wie eine Tür zu öffnen – Sie können spätestens jetzt sicher gut nachvollziehen, warum Schlüssel im Knast einen hohen Symbolwert haben. 

Ein Stück Freiheit

Mittlerweile ist es 31 Jahre her, dass ich das erste Mal einen Fuß in das Gefängnis in Werl gesetzt habe. Rechne ich 220 Arbeitstage im Jahr und die Zeiten für Nacht-, Wochenend- und Bereitschaftsdienste zusammen, habe ich bis heute gut fünfzehn Jahre hinter Gittern verbracht. Hätte mir das bei meinem ersten Dienstantritt jemand prophezeit, hätte ich ihn ausgelacht. Eigentlich hatte ich mich auf eine Assistenzarztstelle in Fröndenberg beworben, war aber am Chefarzt gescheitert. Stattdessen bot man mir die Stelle als Anstaltsarzt in Werl an. Zur Not frisst der Teufel Fliegen oder wie sagt man so schön? Für ein, vielleicht zwei Jahre konnte ich es ja mal versuchen. 

Nun gehe ich in einem halben Jahr in Rente und habe nie überhaupt den Versuch gestartet, hier wegzukommen. Und nein, ich bin nicht einfach irgendwie hängen geblieben. Ich bin schnell angekommen und habe das System Gefängnis verinnerlicht. Von meinem Budget pro Patient kann jeder Hausarzt nur träumen. Außerdem bin ich mit meinem Faible für schwierige Fälle hier genau richtig. Und die Enge? Damit komme ich im Gegensatz zu vielen anderen gut klar, weil ich in meiner Kindheit und Jugend gelernt habe, mit ihr umzugehen. Ich bin im kleinen, reaktionären Westerwald aufgewachsen. Da war schlicht und einfach kein Platz für Freiheit – vor allem auf emotionaler Ebene. Jetzt habe ich mich aber aus freien Stücken für die Enge im Knast entschieden und das hat für mich persönlich eine befreiende Wirkung. Was für mich gilt, ist natürlich nicht auf die Insassen übertragbar. Die sind weggesperrt. Und das an einem Ort, der alles andere als ein schönes Zuhause ist. 

Nicht nur Misstrauen in der Luft

Ich bezeichne das Gefängnis gerne auch als Vorhof zur Hölle. Der Knast ist einzigartig – aber im negativen Sinn. Allgegenwärtig ist zum Beispiel das Misstrauen. Es herrscht eine diffuse Stimmungslage, die zwischen Angst und Selbstbehauptung, zwischen Offenheit und Verschwiegenheit hin- und herpendelt. Jeder ist auf seinen Vorteil bedacht. Echte Freundschaften unter Häftlingen gibt es nur sehr wenige. In jedem Gefängnis wird verschwiegen und vertuscht, ganz besonders gegenüber den Vollzugsbeamten, mit denen man auf keinen Fall spricht – es sei denn, man will gezielt denunzieren. Stellen Sie sich bloß einmal vor, wie es ist, wenn über, neben und vor einem nur Verbrecher sind. Jeder hat eine Menge auf dem Kerbholz und ist höchst wahrscheinlich noch viel härter als man selbst. Auf den ersten Blick wirkt es da komisch, dass die Insassen wie Pech und Schwefel zusammenhalten. Die Erklärung ist aber ganz simpel: Selbst Opfer wollen dazugehören und sich nicht durch eine Beichte weiter „in die Scheiße reiten“. 


Ca. 40 % der
Zellen sind 
Gemeinschaftszellen.


Dann wäre da dieser typische Knastgeruch. Eine Mischung aus Bohnerwachs und Eintopf, kaltem Zigarettenrauch und ungelüfteten Betten. Aus Männerschweiß, Kernseife und angebranntem Essen. Dieser Geruch hängt überall. Er fährt einem scharf in die Nase und legt sich wie ein schmieriger Film auf Haut und Haare. Ein Geruch, der zustande kommt, wenn viele Menschen auf engstem Raum untergebracht sind. Er dringt aus den Zellen, hängt in der Kleidung der Inhaftierten und über den Fluren. Aber wie sollte es auch anders sein? Im Knast kann man nun einmal schlecht lüften. Und selbst wenn man einmal alle Fenster und  Türen auf Durchzug stellen könnte, würde das nicht ausreichen, um den Geruch aus Zellen und Fluren herauszubekommen. 

Privatsache

Was sehr vielen Häftlingen auch zu schaffen macht, ist der Mangel an Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten. Die Zelle ist Schlafraum, Wohnraum, Esszimmer und Toilette in einem. Hier verbringen die Insassen an den Wochenenden bis zu 23 Stunden. Ein Recht auf die Unterbringung in einem Einzelhaftraum gibt es dabei nur in Ausnahmefällen. Viele Insassen müssen Monate, manchmal sogar Jahre in einem Gemeinschaftsraum verbringen, bevor sie endlich in der ersehnten Einzelzelle untergebracht werden können. Und in dieser gemeinsamen Unterbringung prallen die unterschiedlichen Charaktere und Ethnien aufeinander, die „draußen“ kaum Berührungspunkte hätten. Einer Auseinandersetzung kann man in der Zelle kaum entgehen. Die Möglichkeiten, einen Mitinsassen zu schikanieren, sind zahlreich. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. 


13-15 m3 pro Häftling/Zelle


Außerdem fühlen sich nur Wenige in Gemeinschaft wohl. Nichts bleibt vor den Mitgefangenen verborgen. Selbst die Korrespondenzen mit dem Gericht oder den Anwälten werden von neugierigen Zellengenossen eingesehen. Die Angst, beklaut zu werden, ist bei den meisten Insassen allgegenwärtig. Oft kommen Patienten zu mir und flehen mich an: „Tun Sie was, Doc, helfen Sie mir. Ich 
muss da raus!“ So hängen beispielsweise trotz räumlicher Abtrennung der Toilette sämtliche Geräusche und Gerüche in der Zelle. Von Intimsphäre kann hier kaum eine Rede sein. Die einen kommen mit Verstopfung zu mir, weil sie Probleme damit haben, in der Nähe anderer ihren Stuhlgang zu verrichten. Andere drehen durch, weil sich ihr Zellengenosse über Wochen nicht wäscht. Schlaflosigkeit aufgrund schnarchender Mitgefangener ist ebenfalls keine Seltenheit. Und spätestens, wenn der Typ im Bett über einem stöhnend onaniert, kann ich schon irgendwie verstehen, dass bei manchen schon mal die Sicherung durchknallt.

Eine prägende Erfahrung

Ich denke, die Beispiele veranschaulichen ganz gut, wie sich der Raum „Knast“ anfühlt. Die Neuen müssen sich erst einmal „einfummeln“. Sich in dieser anderen Welt mit ihren ganz eigenen Regeln zurecht finden. Herausfinden, mit wem sie sich einlassen und mit wem besser nicht. Aber was das Gefängnis mit dem Einzelnen macht, kann ich Ihnen pauschal nicht beantworten. Im Extremfall wird das Leben an diesem Ort mit den Jahren zur Normalität. Dann gewöhnen sich die Insassen an den anderen Lauf der Zeit und die Enge. So kenne ich einen ehemaligen Gefangenen, der nach seiner Freilassung die Wohnung wie eine Zelle eingerichtet hat. Von der Drei-Zimmer-Wohnung wird nur ein Raum genutzt, weil sich wie im Knast alles in Griff- und Blicknähe befinden muss. 

Viele aber gewöhnen sich niemals an diese hermetisch abgeriegelte Welt. Ich erinnere mich gut daran, dass mir ein ehemaliger Patient und Insasse der JVA einige Monate nach Ablauf seiner Haft ein Foto schickte. Das Bild zeigte ihn stolz wie Bolle mit einem Schlüssel in der Hand vor einer Wohnungstür. Auf der Rückseite des Fotos stand: „Hallo Doc, das ist die erste Tür, die ich nach 22 Jahren wieder selbst auf- und zugeschlossen habe.“ Das hat mich zum Schmunzeln gebracht. Nicht, dass ich Mitleid mit den Gefangenen habe. In einem Gefängnis wie unserem landet man nur aus gutem Grund. Aber ich lege hinter Gittern meine Empathie nicht ab. Ein abgeschnittener Finger tut hier ja auch genauso weh wie „draußen“. Und der größte Erfolg ist doch, wenn ein ehemaliger Insasse alles dafür tut, nie mehr in den Knast zurückzumüssen.

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Zum Autor

Man kennt ihn seit mehr als zwanzig Jahren aus dem Kölner Tatort als glatzköpfigen Rechtsmediziner: Dr. Joseph Roth, der den beiden Kommissaren Ballauf und Schenk zuarbeitet. In seinem „richtigen“ Leben hat es der 64-Jährige Joe Bausch, der mit vollständigem Namen Hermann Joseph Bausch-Hölterhoff heißt, ebenfalls mit den Abgründen unserer Gesellschaft zu tun. Er ist seit 1986 Anstaltsarzt in der Justizvollzugsanstalt Werl, in der die ganz harten Jungs einsitzen. Nach mehr als 30 Jahren ruft in diesem Jahr die Pension. Für ihn eine verlockende Vorstellung. Bleibt mehr Zeit für die so sehr geliebte Schauspielerei. Vor allem freut er sich darauf, auch mal wieder die eine oder andere Theaterbühne zu erobern. Aber ganz wird und will er sich noch nicht von „seinem“ Knast verabschieden: Er kann sich gut vorstellen, weiterhin in Teilzeit für die Gesundheit der Gefangenen zu sorgen.